Es begann 2020 mit einer frechen Bemerkung des Bochumer Religionssoziologen Uwe Becker bei einer Zoom-Konferenz mit dem damaligen EKD-Vorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm. Becker wandte ein, dass das Thema Corona im vorangegangenen Bericht zu überdimensioniert gewesen sei, was er als „Corona-Hermeneutik“ empfand. Bedford-Strohm war sofort „angefressen“. Hermeneutik heißt so viel wie Auslegungskunst religiöser Texte und der Kirchenfürst hatte wirklich einen großen Teil seines Berichts der Auslegung des staatlichen Corona-Narrativs gewidmet.
Diese geradezu biblische Auslegungskunst hat sich mittlerweile auch in Sachbüchern niedergeschlagen. Das Bekannteste ist wohl Corona und andere Weltuntergänge von Alexander-Kenneth Nagel, Untertitel: Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft. Das griechische Wort Apokalypse heißt nur Offenbarung und bezeichnet üblicherweise die Johannes Offenbarung des Neuen Testaments, die mittlerweile zum Auslegungsmuster aller möglichen Krisen geworden ist – von der Finanzkrise über die Flüchtlingskrise, Klimakrise, Prepperszene, „Letzte Generation“, Evangelikale, Qanon, Trumpisten, Kriegsabenteuern und der Zombie-Apokalypse bis hin zum Aufkommen künstlicher Intelligenz. Immer ist es der nahe bevorstehende Untergang.
Staatskirche pur
Wobei Nagels Buch keinen Beitrag zur Aufarbeitung der Corona-Krise leistet. Gleich mehrfach wiederholt er, dass sich im Frühjahr 2020 ein neues Virus rasch entlang der globalen Handels- und Verkehrswege verbreitet hätte und eine hochansteckende Lungenerkrankung verursachte, die nicht selten zum qualvollen Ersticken der Betroffenen geführt hätte. In Glaubenssystemen wird Revisionismus immer bestraft. Deshalb bleibt der Autor brav auf der Seite der Katastrophen-Szenaristen, während sein Buch einen wissenssoziologischen Beitrag über die Unterschiede und Gemeinsamkeites der vielfältigen Untergangsprophetien leistet.
Diese folgen typischerweise dem apokalyptischen Dreischritt Krise – Gericht – Erlösung. Religionswissenschaftler unterscheiden dabei die aktivistische Umsturzerzählung von einer quietistischen Bewältigungserzählung. Strafverschärfend kommt oft noch ein „Katechon“ hinzu, ein Aufhalter des Unheilsgeschehens. Aber bevor relativiert werden kann, muss erst einmal ganz dick aufgetragen werden: der oftmals recht kluge Georg Seeßlen schrieb 2020 in der „Zeit“ dem Coronavirus eine totale Vernichtungskraft zu und bezeichnete das Virus als eine Antiform des Lebens. Wobei er die schlichte Tatsache ignorierte, dass ein Virus, der seinen Wirt tötet, auch seine eigene Fortpflanzung sabotiert. Auch hier wird nichts zurückgenommen, das unendlich Böse wird nahtlos zum unendlich Dummen, das bei Bedarf problemlos nachproduziert werden kann.
So nah am Tabu
In der raschen Abfolge der Katastrophenszenarien ist Aufarbeitung tabuisiert. Sofort wird die nächste Krisensau durchs globale Dorf getrieben und das ist fast nur noch die Erzählung vom Klimanotstand, von der Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen in der Hitze tiefroter Wetterkarten, des Massensterbens von Pflanze, Tier und Mensch. Das Weltklima wird als mechanisches System verstanden, in dem feste Kipp-Punkte dominieren. Man Wetter und Klima nicht als chaotisches System mit bisher unerkannten Einflussgrößen und Handlungsvarianten verstehen will. Erkenntnis-seitig folgt Nagel hier wohl seinem Vorgänger Karl Löwith, der 1983 die Untergangs-Sehnsüchte in der Sowjet-Gesellschaft untersuchte und es nützlich fand, die marxistische Gesellschaftsanalyse zugunsten einer modernen Religionssoziologie zurückzustellen.
Das Buch „Corona und andere Weltuntergänge“ von Alexander-Kenneth Nagel ist 2021 im Transkript-Verlag Bielefeld erschienen und kostet 30,- €.
D. S.